Projektbericht

Dynamische Vertonung und Anzeige von Alter Musik in Verovio

Wie liest man alte Partituren? Wie klingen diese alten Stücke überhaupt? Diese Fragen zu klären wird durch unsere Forschung einfacher!

Projektbeteiligte

Anna Viktoria Katrin Plaksin
Martha Thomae PhD (Universidade NOVA de Lisboa)

PD Dr. Laurent Pugin (RISM Digital Center / Universität Bern

Projektstatus

Abgeschlossen

Wir haben neue Funktionen entwickelt, die es möglich machen, Alte Musik, wie sie im Mittelalter oder in der Renaissance komponiert wurde, in digitaler Form besser sichtbar und hörbar zu machen. Es es ist möglich dynamisch zwischen verschiedenen Ansichten von Musikstücken zu wechseln, z. B. zwischen einer Ansicht in Einzelstimmen und aller Stimmen in einer Partitur. Das erleichtert nicht nur die Arbeit von Musikforschenden, da sie sich, durch die Automatisierung der Partiturerstellung, stärker auf die philologische und inhaltliche Arbeit konzentrieren können, sondern ermöglicht auch Studierenden und Musizierenden einen einfacheren Zugang zu historischer Musik. Dadurch wird es leichter, diese Musik in ihrer ursprünglichen Gestalt zu verstehen und aufzuführen und als kulturelles Erbe zu erhalten.

 Die Scoring-Up Funktion für Mensuralnotation ist in der neuen 5.0.0 Version von Verovio verfügbar!

Zitat Mithilfe dynamischer Musikeditionen müssen wir Vokalmusik aus dem 15. Jahrhundert nicht mehr in moderne Musiknotation übersetzen, damit sie von mehr als ein paar wenigen Expert:innen gesungenwerden kann. Moderne Technologien können uns dabei helfen Alte Musik in ihrer ursprünglichen Notation für ein breites Publikum zugänglich zu machen.

Prof. Dr. Anna Viktoria Katrin Plaksin

Vokalpolyphonie des 15. und 16. Jahrhunderts

Mensuralnotation

Mensuralnotation ist eine Art der Musiknotation, die vom 13. bis zum 17. Jahrhundert verwendet wurde, insbesondere für mehrstimmige Vokalmusik, sog. Vokalpolyphonie. Während mittelalterliche Neumen noch keine Notendauern festhalten, wurde es mit der Verbreitung mehrstimmiger Musik wichtig, dass man auch den Rhythmus eines Musikstücks präzise darstellen kann. Die Mensuralnotation kann bereits die komplexen rhythmischen Strukturen mehrstimmiger Musik darstellen, tut dies aber noch auf andere Weise. Im Gegensatz zu moderner Notation, bei der die Dauer von Noten durch ihre Form und zusätzliche Symbole wie Pausen klar definiert ist, ist in der Mensuralnotation die Dauer einer Note sowohl von deren Form als auch ihrem unmittelbaren Kontext abhängig. Das bedeutet, dass sich der Wert einer Note verändern kann, je nachdem welche Noten davor und danach kommen.
Mensuralnotation ohne Beachtung der kontextabhängigen Notenlängen
Die gleiche Musik, mit der richtigen Beachtung der kontextabhängigen Notenlängen und Rythmik vereinfacht den Umgang mit Alter Musik.

Mittlerweile erfordert es Spezialwissen, um diese Notation überhaupt noch lesen und daraus musizieren zu können. Daher wird dieses Repertoire bisher durch Expert:innen in moderne Notation übertragen. Doch ist es mit der Übersetzung von einer Musiknotation in eine andere genauso wie mit Übersetzungen von z.B. Büchern oder Filmen: Einige Details lassen sich einfach nicht übersetzen und gehen damit unweigerlich verloren. Wir arbeiten daran, dieses unübersetzbare Kontextwissen mithilfe moderner Technologien zugänglich zu machen und zu bewahren.

Chorbücher, Stimmbücher, Partituren

Musikquellen des späten Mittelalters und der Renaissance sind zumeist im sog. Chorbuchformat notiert. In diesem Format sind die verschiedenen Stimmen eines Musikstücks auf einer Doppelseite verteilt, oft in separaten Abschnitten oder auf verschiedenen Seiten. Das bedeutet, dass jede Stimme – zum Beispiel Sopran, Alt, Tenor und Bass – für sich steht und Sänger nur ihre eigene Stimme vor sich haben. Vor allem Notendrucke des 16. Jahrhunderts sind häufig in der Form von Stimmbüchern hergestellt worden. Hier ist jede Stimme in einem einzelnen Buch enthalten.
Jede Stimme steht für sich.

Partituren haben sich erst im 17. Jahrhundert als Darstellungsform etabliert. Im Gegensatz zu Chorbüchern oder Stimmbüchern enthält eine Partitur alle Stimmen eines Musikstücks gleichzeitig und ordnet sie untereinander an. Das ermöglicht es, die musikalischen Zusammenhänge und das Zusammenspiel aller Stimmen auf einen Blick zu sehen, was besonders hilfreich für Dirigenten oder Komponisten ist. Während das Chorbuchformat eher für die Aufführung gedacht war, ist die Partitur besser geeignet, um das ganze Werk im Überblick zu haben und die Harmonien und Rhythmen zwischen den Stimmen zu verstehen.

Hin zu dynamischen Musikeditonen

In den letzten Jahren hat das MEI-Format (Music Encoding Initiative) aufgrund seiner Vielseitigkeit und Funktionalität an Bedeutung gewonnen. Es erlaubt die detaillierte Kodierung von Musiknoten und damit die Digitalisierung von Musikdokumenten in einer maschinenlesbaren Form. Außerdem unterstützt es als einziges Format verschiedene historische Notationsarten wie Neumen, Lautentabulaturen und Mensuralnotation. Diese Vielfalt macht es besonders vielversprechend für Anwendungen im Bereich der Alten Musik, da damit historische Musikquellen in einer originalgetreuen Form digitalisiert werden können.

Verovio ist eine der am weitesten verbreiteten Softwarebibliotheken für die graphische Darstellung von Musiknotationen im MEI-Format und spielt damit eine zentrale Rolle in digitalen Musikeditionen sowie einer Vielzahl von Tools. Speziell für Mensuralnotation sind hier u.a. der Measuring Polyphony Editor, MuRET und MeRIT zu nennen. Insbesondere die Unterstützung von Mensuralnotation in Verovio soll in diesem Projekt erweitert werden.

Kodierung im MEI-Format

Das MEI-Format unterstützt bereits sowohl die Organisation einer Kodierung in Einzelstimmen als auch die Organisation als Partitur. Verovio fehlt bisher noch eine Unterstützung von MEI-Dateien in Einzelstimmen und damit deren automatische Transformation in eine Partitur-Organisation. Die Kontextabhängigkeit der Dauern in Mensuralnotation stellt eine zusätzliche Herausforderung dar, die aber bereits durch Martha Thomae gelöst wurde. Ihr “scoring-up”-Algorithmus, der die rhythmischen Werte auf der Grundlage des Kontexts berechnet, wird nun in Verovio implementiert, um die automatische Berechnung der Notendauern und damit das dynamische Umschalten zwischen einer Ansicht in Einzelstimmen und in Partitur zu ermöglichen. Dadurch können reichhaltige digitale Musikeditionen mit mehreren Ansichtsmodi erstellt werden. Nutzer:innen werden hierdurch problemlos zwischen der originalen stimmenbasierten Darstellung, einer Ansicht der Einzelstimmen und einer automatisch generierten Partitur wechseln können. Zudem ermöglicht die vertikale Anordnung in einer Partituransicht es, sich ein Musikstück in Mensuralnotation auch ohne tiefergehende Kenntnisse grundlegend zu erschließen.

Darüber hinaus birgt die verbesserte Unterstützung von Mensuralnotation großes Potenzial für optische Musikerkennungssysteme (OMR). Diese Systeme können den musikalischen Inhalt aus historischen Quellen automatisch extrahieren, bisher allerdings nur auf Basis der Einzelstimmen. Die Integration der neuen Funktionalität in Verovio ermöglicht es, die Weiterverarbeitung in eine Partitur und die dynamische Anzeige als Einzelstimmen oder Partitur weitgehend zu automatisieren. Hierdurch wird der gesamte Digitalisierungsprozess optimiert.

Durch dieses Projekt haben wir digitale Anwendungen im Bereich der Alten Musik gestärkt und damit das Repertoire auch für Studierende und Nicht-Expert:innen leichter zugänglich gemacht.

Das Projekt wird im Rahmen des dritten Forums „(Weiter-)Entwicklung der Research Tools & Data Services in NFDI4Culture“ von NFDI4Culture (DFG-Projektnummer 441958017) gefördert.

Quelle der Beispiele:

Du Fay, Guillaume: Salve, Regina misericordiae, orig. »Wilhelmus duffay.«, Abschrift, Bayrische Staatsbibliothek München, Mus.ms. 3154, f. 86v-87r